"Warum gehst ausgerechnet du zur Bundeswehr?", "Das passt doch gar nicht zu dir!", "Du machst doch sonst so viel in der Kirche, da passt Zivildienst doch besser?!".

Häufig bekam ich damals nach meiner Musterung 1999 solche Fragen gestellt. Dennoch hatte ich mich entschieden, nach dem Abitur 10 Monate Wehrdienst zu leisten. Ich könnte behaupten, vorher lange hin und her überlegt zu haben, aber im Grunde war es nicht so. Irgendwie war es für mich immer klar, ein knappes Jahr meines Lebens Soldat zu sein. Wäre ich nicht eingezogen worden, hätte ich mich selbstverständlich auch nicht beschwert.
Drei Gründe gab es, die meine Entscheidung zugunsten des Wehrdienstes beeinflusst hatten:

Der erste Grund ist der gängigste: Ich wollte meine Grenzen kennen lernen, kombiniert mit einer gewissen Neugier darauf, was da wohl kommen würde im Soldatenleben. Nach 13 Jahren Schule wollte ich etwas erleben, ein wenig Action haben. Ein romantisches Abenteuer habe ich dabei definitiv nicht erwartet. Es sollte einfach eine ganz andere Erfahrung sein, die ich zwischen Schule und dem voraussichtlichen Studium machen wollte. Etwas, was so im Leben sicherlich nicht noch einmal kommen würde. Dazu muss ich sagen: Um die Jahrtausendwende war die Bundeswehr noch etwas anderes als vorher im Kalten Krieg und auch anders, als sie es heute ist. Es gab zu der Zeit kein reales Bedrohungsszenario, so dass ich mir sicher sein konnte, nichts von dem was ich lernen würde jemals im Ernstfall anwenden zu müssen. Klar hätte es zumindest im Wachdienst theoretisch passieren können, dass das Schießen auf einen Menschen situationsbedingt legitim gewesen wäre. Ob ich es aber getan hätte? Höchstwahrscheinlich nicht! Die Terroranschläge vom 11. September 2001, die drei Monate nach meinem Wehrdienstende geschahen, änderten die Lage dann fundamental. Eine Zeit lang hatte ich die Befürchtung, jetzt würde es doch noch ernst werden. Aber der Brief mit dem großen "V" (für Verteidigungsfall), den ich in den ersten Tagen meines Studiums bekam, blieb glücklicherweise nur die Vorankündigung eines möglichen Einzugsbefehls. Später habe ich nie wieder etwas von der Bundeswehr gehört. Das, was mittlerweile in der Weltgeschichte geschieht, Stichwort Krieg in der Ukraine, das wäre für mich im Jahr 2001 und auch noch im Jahr 2021 völlig undenkbar gewesen.

 

Zweitens: Schon immer habe ich mich für Politik und Geschichte interessiert. Solange es Menschen gibt, wird es (militärische) Konflikte geben. Da mache ich mir nichts vor. Ich weiß nicht, wann es zum ersten Mal "Militär" gegeben hat, aber ich behaupte mal, seit einigen tausend Jahren gab es in jeder Gesellschaft ein Subsystem, in dem an der Waffe ausgebildet und auf eine kriegerische Auseinandersetzung vorbereitet wurde. Dieses System Armee/Militär wollte ich selbst kennen lernen. Es wird in Deutschland seit dem Ende des 2. Weltkriegs viel über das Für und Wider einer Bundeswehr gestritten, es gibt Pazifisten, Traditionalisten, Realisten. Um mir meinen eigenen Standpunkt entwickeln und mit echten Erfahrungen untermauern zu können, wollte ich erleben wie es ist Soldat zu sein: Würde ich selbst (der ich mich als gebildete und psychisch stabile Persönlichkeit sehe) wider Erwarten zu einem überzeugten Soldaten werden, der im Ernstfall das tut, wofür er ausgebildet wird, nämlich auf Menschen zu schießen? Oder würde das Gegenteil der Fall sein? Würde ich während den 10 Monaten zum Rebell, zum Widerständler werden, der ggf. Befehle verweigert und dafür Gefängnis riskiert? Oder würde ich mich einfach durchwurschteln, ohne groß aufzufallen? Ohne diese Fragen an dieser Stelle beantworten zu wollen: Die Zeit war tatsächlich sehr lehrreich, ich habe sehr viel für das Leben mitgenommen, ich konnte mir zu vielen Dingen eine erfahrungsbasierte Meinung bilden. So gesehen waren die 10 Monate für mich keine vertane Lebenszeit, auch wenn das allermeiste von dem was ich praktisch gemacht und gelernt habe, keinerlei Sinn hatte. Ich werde nie wieder im Gleichschritt marschieren, Waffen reinigen oder mit dem Panzer ein Gefecht führen. Betten machen, Schuhe putzen, früh aufstehen oder eine Landkarte lesen konnte ich auch schon vorher.


Der dritte Grund war letztlich der entscheidende und ein ganz anderer, als die beiden vorherigen: Als ich 12 Jahre alt war erkrankte meine Großmutter an Krebs. In den beiden folgenden Jahren wurde sie mehr und mehr zum Pflegefall und zog schließlich nach einem längeren Krankenhausaufenthalt bei uns zu Hause ein. Mein Bruder und ich unterstützten unsere Eltern beim Bewältigen der täglich anfallenden Pflegeaufgaben. Jeder der eine solche Situation kennt kann sich vorstellen, wie schwierig und belastend eine solche sehr plötzlich auftretende Situation für eine Familie und speziell für Kinder ist. Kurzum: Ich wusste seit dieser Zeit, dass ich niemals in der Pflege alter Menschen arbeiten wollte. Und da die Chance eines Zivildienstbewerbers auf einen Einsatz im Bereich Altenpflege in meiner Heimatstadt Cuxhaven relativ groß war, wählte ich von vorneherein die Variante Wehrdienst. Mein Bruder arbeitete später als Zivi in einer WfbM. Von dem was er regelmäßig erzählte wusste ich, dass auch eine solche Tätigkeit nichts für mich gewesen wäre. Auch wenn ich mittlerweile Berufsorientierungsprojekte und Potenzialanalysen an Förderschulen mit dem Schwerpunkt Geistige Entwicklung durchführe, ist dies noch etwas anderes, als die tatsächliche Pflege behinderter Menschen.

 

Schießübung mit dem Leopard 1 A5 in Lübtheen, Mai 2001
Schießübung mit dem Leopard 1 A5 in Lübtheen, Mai 2001

Worin ich mich glücklich schätzen kann, das wurde mir erst gegen Ende bzw. nach der Wehrdienstzeit klar, ist der Umstand, dass ich erstens in meinem Heimatdorf stationiert war (also zumindest nach der Grundausbildung "Heimschläfer" war) und zweitens mit Leuten beim Bund war, von denen ich die meisten als "Gleichgesinnte" bezeichnen würde. Wir waren eine Schicksalsgemeinschaft von größtenteils Abiturienten aus dem Elbe-Weser-Dreieck, die die Zeit mit regelmäßigem Galgenhumor gemeinsam durchgestanden haben. Nicht zuletzt deshalb stehen wir heute noch in Kontakt miteinander. Ausgehend von unserer Ehemaligenseite www.deppenvomdienst.de schaffen wir es in der Regel mindestens einmal im Jahr, uns zu einem "Revival" zu treffen. Dabei steht keineswegs die nostalgisch verklärte positive Erinnerung an die Zeit beim Bund im Vordergrund (auch wenn sich manche durchaus nochmal eine Woche Wehrdienst wünschen), sondern eher das gesellige Beisammensein, das anekdotenhafte Erinnern daran, was damals war (ob nun schön oder weniger schön), und natürlich der Austausch darüber, was wir heute so treiben. Bleibende Schäden, um damit zu schließen, hat niemand von uns behalten.

 

Falls jemand meinen Rat möchte, ob er/sie zur Bundeswehr gehen sollte: einfach fragen. Die Antwort ist nicht in einem Satz getan.